Meryl Streep: Ich bin sie!
Der Spiegel ·
February 18, 2012
· Written by Martin Wolf, Philipp Oehmke
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Am Abend bevor Meryl Streep in Berlin einen Goldenen Ehrenbären für ihr Lebenswerk bekommt, besucht sie den “Berlinale Dining Club” im Kaisersaal am Potsdamer Platz. Sechs runde Tische, Silberbesteck, an der Wand ein Ölporträt von Wilhelm II., unter den Gästen sind die Regisseure Doris Dörrie und Werner Herzog. Als der Berlinale-Chef Dieter Kosslick die Schauspielerin in den Saal führt, erheben sich alle Anwesenden und klatschen. “Das ist das erste Mal, dass ich Margaret Thatcher applaudiere”, sagt ein Gast aus England. Meryl Streep ist in Berlin, um ihren Film “Die Eiserne Lady” vorzustellen, in dem sie die damalige britische Premierministerin spielt. In Großbritannien ist der Film ein Politikum, angefeindet von rechts und links gleichermaßen. Thatcher-Anhänger sind empört, dass der Film ihr Idol in vielen Szenen als gebrechliche, geistig verwirrte Frau zeigt; Thatcher-Gegner beklagen, der Film konzentriere sich zu sehr aufs Menschliche und blende Thatchers Politik weitgehend aus. Fast 22 Jahre nachdem Parteifreunde sie zum Rücktritt zwangen, ist der Kampf um ihre Person wieder voll entbrannt: Wer war diese Frau wirklich, die die sowjetische Zeitung “Roter Stern” einst zur “Eisernen Lady” erklärte? Thatcher selbst, mittlerweile 86 Jahre alt und an Demenz erkrankt, ist die Einzige, die nichts sagt, nichts mehr sagen kann.
Das Gespräch findet in einem Hotel am Gendarmenmarkt statt. Meryl Streep, 62 Jahre alt, ist bester Laune, und das aus gutem Grund: Für die Thatcher-Rolle hat sie bislang unter anderem einen Golden Globe und einen britischen Bafta-Award bekommen, und am 26. Februar wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit den Oscar gewinnen. Es wäre ihr dritter, nach “Kramer gegen Kramer” (1980) und “Sophies Entscheidung” (1983). Seit 35 Jahren ist sie im Geschäft, keine andere Schauspielerin hat so viele starke Frauen gespielt wie sie, in “Jenseits von Afrika”, “Der Teufel trägt Prada” oder “Mamma Mia!”. Nun kommt am 1. März “Die Eiserne Lady” in Deutschland ins Kino. Nie zuvor hat einer ihrer Filme eine derart heftige politische Debatte ausgelöst.
SPIEGEL: Mrs. Streep, war das nicht ein sehr gewagtes Unterfangen? Sie spielen Margaret Thatcher mit viel Einfühlung und Zuneigung, und am Ende des Films hat man als Zuschauer gar keine andere Wahl, als viel Sympathie für eine sehr umstrittene Politikerin zu haben.
Streep: Es war riskant. Aber ich würde nicht sagen, dass ich sie mit Zuneigung spiele. Einfühlung, ja, das ist richtig.
SPIEGEL: Woher nehmen Sie diese Einfühlung?
Streep: Ihre Politik und die Vehemenz, mit der sie bekämpft wurde, das finden Sie alles in den Archiven. Meine Idee war es, eine Figur zu nehmen, von der jeder glaubt, alles zu wissen. Die Menschen in England sind zutiefst gespalten über Margaret Thatcher. Aus konservativer Sicht ist sie eine Ikone, die das Pfund gerettet und verhindert hat, dass England im europäischen Sumpf versinkt. Für die Linken war sie diejenige, die den Sozialstaat zerstört hat. Für mich aber, als Amerikanerin, gab es viele Überraschungen. Ich wusste nicht viel über sie. Außer, dass ich sie früher nicht mochte.
SPIEGEL: Sie als typische Ostküstenliberale.
Streep: Ja. Wir verabscheuten Reagan, wir verabscheuten Thatcher. Dass sie die Gewerkschaften abgeschafft hat, war für mich und meine Freunde ein Gräuel. Ich hielt sie für kalt und für unfähig, Gefühle zu zeigen. Heute denke ich, dass das vielleicht nur an ihrem Amt lag.
SPIEGEL: Warum?
Streep: Vergessen Sie nicht, als sie 1979 an die Macht kam, war sie der erste weibliche Regierungschef der westlichen Welt. Wenn man da Gefühle zeigt, wenn man weint, wäre das automatisch das Eingeständnis, dass man für eine solche Position nicht geeignet ist. Wie geht dieses Zitat? War es Shakespeare? Eine Frau, die lacht, ist eine eroberte Frau. Damals regierte in England eine Männerhierarchie aus der Oberschicht. Diese Leute waren antisemitisch, homophob und klassenbewusst. Verzeihung, aber dass sich Thatcher dort durchsetzte, finde ich heute schier unglaublich.
SPIEGEL: Es muss eine merkwürdige Erfahrung für Sie sein: Zwar loben alle Ihre Schauspielleistung, mit dem Film scheint aber kaum jemand zufrieden zu sein.
Streep: Niemand ist happy. Die Linken sagen, wir gehen zu milde mit ihr um. Die Konservativen sagen, ich sollte mich schämen, sie als alte demente Frau zu zeigen. Aber das wussten wir von Anfang an. Wir haben uns bewusst jemanden vorgenommen, der emblematisch für etwas steht. Und wir haben versucht uns vorzustellen, wie der Mensch dahinter aussehen könnte. Wir haben uns ihr ganzes Leben angeschaut, auch das von heute, und deswegen zeigt der Film auch drei Tage in Thatchers Leben von heute: Sie ist krank, ihr Mann Denis schon längst tot, der Sohn irgendwo in Südafrika.
SPIEGEL: Es ist deswegen auch ein Film über das Ende eines Lebens.
Streep: Das Ende eines Lebens, richtig.
SPIEGEL: Könnte man sagen: Je weniger man über die echte Thatcher weiß, desto mehr kann man den Film genießen?
Streep: Ja. Für uns alle ist es ziemlich schwierig, uns von unseren sorgsam etablierten Gewissheiten zu lösen. Dadurch erklärt sich auch diese merkwürdige Dichotomie in den Reaktionen auf den Film.
SPIEGEL: Was meinen Sie damit?
Streep: Auch Ihre Reaktion zum Beispiel: Sie können das Schauspielerische benennen, und das mögen Sie. Aber mit dem Film selbst scheinen Sie alle möglichen Probleme zu haben, Thatcher zu sanft, Thatcher zu dement. Das aber ist falsch, das ist inkohärent. Dass Sie meine Darstellung mögen, hat nur damit zu tun, wie der Film konzipiert ist: die Tatsache eben, dass wir Thatcher nun als alte Frau zeigen. Das geht Ihnen nahe, denn es ist interessant, das Menschliche in Personen zu entdecken, über die man längst Urteile gefällt hat. Ich zeige Ihnen jetzt eine alte Frau, die auf ihre glorreichen Zeiten zurückblickt: was sie bereut, was für sie am Ende am meisten zählt, was in ihrem Kopf stattfindet.
SPIEGEL: Manchmal wirkt sie furchtbar verwirrt, spricht mit ihrem verstorbenen Mann, dann wieder ganz klar.
Streep: Haben Sie jemanden – entschuldigen Sie, wenn ich das frage – in Ihrer Umgebung, der dement ist? Mein Vater litt an Demenz, und er hatte oft sehr schwierige Tage, um es vorsichtig auszudrücken. Dann habe ich ihn ins Auto verladen und bin mit ihm zum Arzt gefahren. Und dann, beim Arzt, war mein Vater völlig klar. Er hatte ein großartiges Gespräch mit dem Arzt. Zurück im Auto, sagte er: Das war jetzt aber Zeitverschwendung. Und ich dachte, ja, wahrscheinlich war es Zeitverschwendung. Dann kommen wir nach Hause, und alles geht von vorn los. So ging es auch der Familie Thatcher. Das wollte ich zeigen.
SPIEGEL: Jetzt kommt da also der amerikanische Superstar mit seinen zwei Oscars und zeigt den Engländern mal, wie Margaret Thatcher wirklich war: Verstehen Sie die Irritationen in England?
Streep: Ja, und ich sage Ihnen, ich war extrem nervös. Ich erinnere mich noch an den ersten Tag der Dreharbeiten. O Gott. Die Proben sollten in einer großen Halle in den Pinewood Studios bei London beginnen. Es müssen Hunderte Männer gewesen sein, die sich dort versammelt hatten, all diese englischen Schauspieler in ihren vornehmen Anzügen, die die Parlamentarier darstellen sollten, die Militärs, die Parteigrößen. Alle warteten auf mich. Aber es gab einen Schneesturm, und ich kam eineinhalb Stunden zu spät.
SPIEGEL: Der amerikanische Superstar.
Streep: Genau. Die Kollegen müssen gedacht haben: Typisch Hollywood, für wen hält sie sich? Ich habe geschwitzt, mein Gesicht war nass, ich war aufgeregt.
SPIEGEL: Was haben Sie dann gemacht?
Streep: Ich habe tief eingeatmet. Ich glaubte, ich hatte meine Hausaufgaben gemacht, ich wusste, wie Margaret Thatcher spricht, ich hatte den britischen Akzent drauf und wusste, wie es sich anfühlt, alt zu sein. Aber das war der Moment, in dem ich innehielt, weil ich plötzlich nachempfinden konnte, wie es sich anfühlen muss, sie zu sein. Und ich habe mir gesagt: Ja, ich kann das. Ich bin sie. Dann habe ich die Tür aufgemacht und bin reingegangen. Ohne Angst.
SPIEGEL: Hat es funktioniert?
Streep: Ja, Gott sei Dank.
SPIEGEL: Trotzdem schienen Sie so nervös über die Reaktionen zu dem Film zu sein, dass Sie vorab die wichtigsten englischen Journalistinnen einluden, ihnen den Film zeigten und für sie kochten.
Streep: Ja. Die Betonung liegt auf: Journalistinnen. Wir haben die Männer bewusst diskriminiert, denn normalerweise wird Meinung von Bloggern gemacht, alles junge Männer, die dann bestimmen, wie über einen Film geredet wird. Wir aber wissen, dass Frauen so nicht arbeiten. Frauen überlegen länger.
SPIEGEL: Wirklich?
Streep: O ja. Ich habe diese Lektion gelernt, als ich noch eine junge Frau war. Für meinen Bachelor war ich zunächst auf einem reinen Mädchen-College. Dort stellte der Professor eine Frage, dann herrschte Stille, alle dachten nach, und schließlich antwortete eine. In meinem letzten Jahr wurden Mädchen- und Jungen-Colleges zusammengelegt, und ich ging nach Dartmouth, wo vorher nur Jungen studiert hatten. Wenn dort der Professor auch nur im Begriff war, eine Frage zu stellen, war schon ein Mann längst aufgestanden und wusste die Antwort. Diese Lektion hat sich eingebrannt.
SPIEGEL: Würden Sie den Film über Margaret Thatcher auch als eine Art feministisches Projekt bezeichnen?
Streep: Zweifellos. Sie selbst hätte das Wort Feminismus natürlich abgelehnt, wie auch viele junge Frauen heute dieses Wort ablehnen.
SPIEGEL: Würden Sie sich als Feministin bezeichnen?
Streep: Ich bezeichne mich als Humanistin.
SPIEGEL: Hollywood ist ja möglicherweise eine ähnliche Männergesellschaft wie die Politik. Und Sie sind dort ähnlich erfolgreich, wie Thatcher es in der Politik war.
Streep: Und ja, manchmal ist es auch in Hollywood ein bisschen schwerer für Frauen. Jemand wie Clint Eastwood zum Beispiel, mit dem ich “Die Brücken am Fluss” gedreht habe, kann nach einer Probe einfach zu einem Beleuchter sagen (sie imitiert Eastwoods Kommandoton): “Rück den Scheinwerfer weiter nach hinten, das Licht ist viel zu hell.” Clint darf so reden, er setzt niemanden damit herab. Eine Regisseurin aber sagt (Streeps Stimme wird ganz sanft): “John, würdest du bitte den Scheinwerfer verschieben, weil ich glaube, dass das Licht dann vielleicht besser fällt.” Würde sie so bellen wie Clint, würden alle Männer am Set die Augen verdrehen. Wir sind noch nicht sehr weit gekommen.
SPIEGEL: Würden Sie Thatcher als feministische Ikone bezeichnen?
Streep: Sie hat sicherlich neues Terrain erschlossen, besonders weil sie sich ja bei den Konservativen durchgesetzt hat. Bei den Linken wäre es für eine Frau wahrscheinlich einfacher gewesen. Aber sie hat das konservative Establishment durcheinandergerüttelt – und ja, die Situation für Frauen verändert.
SPIEGEL: Andererseits hat sie an den traditionellen Rollenbildern festgehalten. Sie wollte eine gute Ehefrau sein.
Streep: Sie hat es versucht. Aber den härteren Job in dieser Ehe hatte ihr Mann Denis. Welche Rolle blieb für ihn neben dieser dominanten Figur? Um das Machtgefälle zu kompensieren, hat sie für ihn gekocht. Sie hat sogar für ihr Kabinett gekocht. Ihre Weiblichkeit bestand am Ende darin, sich um andere zu kümmern.
SPIEGEL: Man hat dennoch den Eindruck, dass diese Idee diskreditiert wird. Zunächst sieht man Thatcher als 25-jährige junge Frau ihrem zukünftigen Mann sagen, sie wolle nicht als Ehefrau enden, die in der Küche steht und Geschirr abwäscht. Die letzte Szene des Films aber zeigt genau das: die alte verlassene Margaret Thatcher, wie sie eine Teetasse spült.
Streep: Diese alte Frau verstehen Sie nur, wenn sie auch die 25-Jährige kennen. Die sagt: Ich werde niemals scheitern. So war ich auch. Nie war ich so selbstgewiss wie mit 25. Doch wir alle scheitern irgendwann. Unsere Gesundheit verlässt uns. Wir lassen nach. Wir schwinden.
SPIEGEL: Das ist es, was Ihren Film so schwermütig macht: Man kann die Sowjets niederringen, aber am Ende schafft man es kaum noch, allein eine Tüte Milch zu kaufen.
Streep: Am Ende kommt es nur auf eines an, für Margaret Thatcher oder auch mich: Wer liebt einen?
SPIEGEL: So empfinden Sie das?
Streep: Das Leben wird sehr einfach am Ende. Man ist voll mit Erinnerungen, eine Kakophonie von Bildern im Kopf, manche zwingend, andere nicht. Das Leben bricht sich runter auf das Wesentliche. Margaret Thatcher blickt kurz vor Ende des Films in den Spiegel. Sie hat all diese vermeintlich wichtigen Entscheidungen getroffen. Aber der Lauf der Geschichte geht weiter, fast unabhängig von der Bedeutung jeder einzelnen Figur. Die Szene am Ende, in der sie die Teetasse abwäscht: Es ist das erste Mal in dem Film, dass diese Frau nicht einer politischen Tagesordnung gehorcht oder in der Vergangenheit lebt. Sie ist angekommen im Hier und Jetzt, sie hört die Vögel zwitschern, sie sieht die Kinder draußen, sie fühlt das Wasser an ihren Händen. Dann eine Teetasse abzuspülen ist nichts Schlimmes.
SPIEGEL: Sie ist ein Mensch, der am Ende des Lebens schwer zu kämpfen hat.
Streep: Ja, mit ihren Fehlern, mit allem, wo sie versagt hat: vielleicht mit der Richtung, in die sie ihr Land gelenkt hat. Wo hat das hingeführt? Es hat nirgendwo hingeführt.
SPIEGEL: Am Ende des Films hat man den Eindruck, dass Thatcher ihre Familie der Karriere geopfert hat. Mrs. Streep, Sie selbst haben vier Kinder, Sie drehen seit 35 Jahren einen Film nach dem anderen, Sie sind monatelang auf Reisen. Kommt Ihnen Thatchers Konflikt bekannt vor?
Streep: Haben Sie Kinder? So komisch es klingt, aber ein Leben in der Filmwelt hat mir mehr Zeit mit meinen Kindern verschafft, als wenn ich Architektin geworden wäre, Anwältin oder Politikerin. Ich drehe vier Monate lang einen Film, und dann bin ich wieder arbeitslos, und wenn ich arbeitslos bin, bin ich zu Hause. Und wenn ich zu Hause bin, dauert es nicht lange, bis meine Kinder fragen: Wann drehst du wieder? Sie finden es besser, wenn ich weg bin. Wenn der Vater das Sagen hat, regiert die Freiheit. Mein Mann und ich spielen “good cop, bad cop”. Ich bin der “bad cop”.
SPIEGEL: Nachdem Sie sich für ein paar Monate in eine Frau über achtzig hineinversetzt haben – macht Ihnen das Älterwerden jetzt mehr Angst?
Streep: Wie reizend! Das können nur junge Männer fragen. Nein, ich habe keine Angst vorm Alter. Manchmal aber erschrecke ich mich, wenn ich zufällig mein Spiegelbild in einem Schaufenster sehe.
SPIEGEL: Mrs. Streep, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.