Eine Frau, die verbindet
Arte Magazin ·
August 2020
· Written by Anke Sterneborg
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Sie war spektakuläre 21 Mal für den Oscar nominiert, drei Mal hat sie den Preis gewonnen: Meryl Streep ist die Königin von Hollywood. Was treibt die Schauspielerin an?
Nehmen wir nur eine der rund 90 Frauen, die Meryl Streep seit 1977 vor der Kamera gespielt hat: Joanna in „Kramer gegen Kramer“ (1979). Eine Mutter, die ihren fünfjährigen Jungen dem Vater, gespielt von Dustin Hoffman, überlässt, um sich mit sich selbst zu beschäftigen – da hat man als Schauspielerin eigentlich keine Chance auf Zuschauersympathien. Und doch gelang es Meryl Streep, das Drehbuch und die Regie von Robert Benton zu unterlaufen. Die Rede, die Joanna in der Sorgerechtsverhandlung hält, hatte Streep in der Nacht zuvor selbst umgeschrieben und trug sie dann mit so viel Einfühlung und unaufgeregter Intensität vor, dass es plötzlich kein Widerspruch mehr war, dass eine Mutter ihren Sohn über alles liebt und ihn trotzdem verlassen muss, quasi aus Notwehr. Während Joanna vor Gericht äußerlich um Beherrschung ringt, lässt sie zugleich durchscheinen, wie aufgewühlt sie innerlich ist. Dezent schmückt die Schauspielerin ihre Worte mimisch aus, mit kleinen Pausen, verhaltenen Atmern und wohldosierten Augenaufschlägen, hier ein flüchtiger Blick zum Ehemann, da ein Schlucken am Kloß im Hals. Gut möglich, dass es diese zwei Minuten waren, die ihr den ersten Oscar, für die beste Nebenrolle, einbrachten, nachdem sie zuvor schon für ihre Leistung in „Die durch die Hölle gehen“ (1978) nominiert war.
Keine der Frauen, die sie spielt, lässt sie allein mit ihrer Schuld, ihrem Unglück, ihren Zweifeln, ihrer Angst, ihren Widersprüchen. Sie setzt alles daran, zu verstehen und zu vermitteln, warum sie so und nicht anders handeln. Das gilt auch für die härtesten und bösesten Frauen, die sie verkörpert hat: die Modemagazin-Königin Miranda Priestly in „Der Teufel trägt Prada“ (2006), die giftige Matriarchin in „Im August in Osage County“ (2013) und die verbitterte Schwiegermutter in der zweiten Staffel von „Big Little Lies“ (2019). Drei Frauen, die mit einem einzigen, einfachen Satz ganze Existenzen vernichten können. Immer lässt Streep auch die Einsamkeit, den Schmerz und die Verzweiflung durchschimmern, die zu diesem Punkt geführt haben. „Wir ‚übersetzen‘ sozusagen Menschen, die scheinbar weit entfernt und fremd sind“, sagt Meryl Streep, „wir sind die Stromleitung für die Übertragung, sodass Sie in der Lage sind, mit ihnen mitzufühlen. Schauspieler verbinden Menschen mit Menschen.“ In ihrer besonderen Mischung aus Talent und Intuition macht sie die unterschiedlichsten Seelen lesbar.
Eine aristokratische Autorität
Fragt man irgendwo in der westlichen Welt und wahrscheinlich auch darüber hinaus eine Schauspielerin nach ihren Vorbildern, der Name Meryl Streep wird nahezu immer genannt. Als Königin von Hollywood verströmt sie eine aristokratische Autorität. Wenn man ihr dann aber im Gespräch begegnet, bricht die 1949 in New Jersey geborene Darstellerin immer wieder in vergnügtes Lachen aus, das den feinen Schleier ihrer Unnahbarkeit augenblicklich zerreißt. Mehr als 40 Jahre ist sie im Geschäft. Das Verfallsdatum, das Hollywood Frauen in der Regel ausstellt, hat sie längst um Jahrzehnte überschritten. In einem Alter, in dem viele Schauspielerinnen sich mit Nebenrollen als Mutter oder Großmutter begnügen müssen, sammelt sie immer noch vielschichtige Hauptrollen. Als ihr mit 40 in nur einem Jahr drei Hexenrollen angeboten wurden, dachte sie, das sei nun wohl die Richtung, die ihre Karriere nehmen würde, aber 30 Jahre später spielt sie noch immer ein, zwei, drei komplizierte Frauen im Jahr. Spektakuläre 21 Mal war sie für den Oscar, 31 Mal für den Golden Globe nominiert, drei beziehungsweise acht Mal hat sie die Trophäen mit nach Hause genommen: „Her, again“ ironisierte sie den eigenen Erfolg in einer ihrer Dankesreden, die sie generell gerne für politische Argumente und Appelle nutzt. Mit fast 60 war sie das Gesicht, das weltweit Millionen Zuschauer mobilisierte – mit der Modesatire „Der Teufel trägt Prada“ und dem Abba-Musical „Mamma Mia“ (2008). Was bliebe vom Kino, wenn es all ihre Rollen nicht gäbe, muss man sich fragen.
Heerscharen von Kritikern, Filmhistorikern, Biografen und Dokumentaristen haben versucht, das Geheimnis ihres anhaltenden Erfolges zu ergründen, und können doch nur Annäherungen liefern, aus vielen Mosaiksteinen ein sich ständig wandelndes Bild zusammensetzen. Hinter einem Lächeln, das Jack Nicholson mal mit dem der Mona Lisa verglichen hat, bewahrt sie sich ein persönliches Geheimnis. Wie erklärt man so eine Karriere? Hilfreich war gewiss, dass sie nicht mehr ganz blutjung war, als sie mit fast 30 Jahren 1976 ihre ersten Kinorollen übernahm und, vom Theater kommend, dem Film ohnehin eher misstraute. Entscheidend ist auch, dass sie ihre Jugend, ihre Schönheit und ihren Sexappeal nie offensiv und vordergründig ausgespielt hat. Auch als Schmuckstück an der Seite oder gar im Schatten eines Mannes war sie nicht zu haben, immer hatte sie ihren eigenen Kopf und war damit auf natürliche Weise emanzipiert. Allein schon durch die kluge Auswahl der Rollen wurde sie zur Sprecherin für die Sache der Frauen. Und damit sind nicht nur die vielen Pionierinnen in Männerdomänen gemeint, die sie verkörpert hat, wie die Schriftstellerin Karen Blixen in der britischen Kolonialgesellschaft in „Jenseits von Afrika“ (1985) – im August auf ARTE zu sehen –, Julia Child als einzige Frau unter den französischen Gourmetköchen, die politische Strippenzieherin im War on Terror in „Der Manchurian Kandidat“ (2004) und die erste britische Premierministerin in „Die Eiserne Lady“ (2011), die Suffragette Emmeline Pankhurst und zuletzt Kay Graham, Herausgeberin der Washington Post und Kämpferin für die Pressefreiheit. Sie hat ein sicheres Gespür für Filme, die spannende, unterhaltsame, auch historische Geschichten erzählen und zugleich etwas über die heutige Welt sagen. Über Umweltschutz, Pressefreiheit, Diskriminierung, über den Holocaust und Aids – und insbesondere die Stellung der Frau, die sie nicht nur als Schauspielerin stärkt, sondern mit ihrer ganzen Persönlichkeit, bei jedem öffentlichen Auftritt, aber auch als Aktivistin, die sich beispielsweise für die Einrichtung eines Museums einsetzt, das in Washington Lebensgeschichten von Frauen sammelt.
Ganz bewusst hat sich Meryl Streep entschieden, der Falle des Typecastings zu entgehen. Stattdessen spürte sie vielfältige Rollen in allen nur erdenklichen Erscheinungsformen auf und modellierte sie mit allem, was ihr zur Verfügung steht, mit dem Körper, der Haltung und den Klangfarben der Stimme, mit Kostüm und Maske, mal mit wehenden, langen, blonden Haaren, mal mit schwarzem Pagenkopf, mit zerzaust rotblondem Schopf, mit struppig toupierter Frisur oder betonierten Omalocken. Mit tiefergelegter Stimme als Margaret Thatcher oder in schriller Koloratur als Florence Foster Jenkins. Dazu kommt noch die legendäre Vielfalt ehrgeizig angeeigneter Akzente, als russisch-orthodoxe Immigrantin in „Die durch die Hölle gehen“, als polnische Holocaust-Überlebende in „Sophies Entscheidung“ (1982), als texanische Gewerkschaftsaktivistin in „Silkwood“ (1983), als britische „Geliebte des französischen Leutnants“ (1981), als dänische Schriftstellerin in „Jenseits von Afrika“, als australische Mutter in „Ein Schrei in der Dunkelheit“ (1988), als italienische Kriegsbraut in „Die Brücken am Fluß“ (1995) und sogar als Rabbi mit kratziger Stimme und wucherndem Bart, eine von drei Figuren, die sie in der Miniserie „Engel in Amerika“ (2003) verkörperte, weil eine Rolle ihr nicht genug Herausforderungen bot. Ihre Verwandlungskunst wurde immer wieder als chamäleonhaft beschrieben, was aber nicht stimmt, weil sie eben doch immer zu erkennen ist, mit ihren markanten Zügen und ihrer kraftvollen Stimme.
Schiere Lust an der Verwandlung
Es ist eher so, dass die bekannte Meryl Streep ein bisschen zurücktritt, um einer Absplitterung ihrer eigenen Persönlichkeit den Raum zu eröffnen: „Wir alle tragen den Keim jedes anderen Menschen in uns“, sagt sie. Anders als ihre doch eher angestrengt wirkenden Kollegen Daniel Day Lewis oder Christian Bale bewahrt sie sich dabei immer etwas Spielerisches, lässt immer auch die schiere Lust an der Verwandlung durchscheinen. Vor allem aber hat sie keinerlei Angst davor, sich lächerlich zu machen, präsentierte sich alt, unförmig oder hässlich, als keifende Hexe in „Into the Woods“ (2014), als lebenssprühende Küchenmatrone Julia Child in „Julie & Julia“ (2009), als furchterregendes Schwiegermuttermonster, als grotesk Unsterbliche in „Der Tod steht ihr gut“ (1992) oder als fahl verhärmte Nonne, die in „Glaubensfrage“ (2008) unerbittlich gegen Missbrauch in der Kirche kämpft. Und es dürfte keine andere Schauspielerin auf der Welt geben, die eine so erwachsen herzzerreißende und zugleich mädchenhafte Liebesgeschichte wie „Die Brücken am Fluss“ tragen und dann auch noch mit fast 60 Jahren in Latzhosen und wallender Lockenmähne als fröhlicher Hippie singend und tanzend über eine griechische Insel fegen kann, ohne dass es albern wirkt. So gibt es noch unendlich viele Frauen, deren Geschichten von ihr erzählt werden können.
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